#36 SANTIAGO DE CHILE

September 2022

Von der Küste fahren wir weiter und halten auf halber Strecke zwischen Meer und Anden, in Santiago de Chile. Leider gibt es in der Hauptstadt keine Campingplätze, man findet nur weit außerhalb der Stadt Stellplätze. Da wir unsere Zeit nicht mit stundenlangem rein-& rauspendeln verbringen wollen, entscheiden wir uns kurzerhand ein AirBnb zu buchen. Nach einigen versendeten Anfragen ist dann auch ein kleines Zimmer mit Tiefgaragen-Parkplatz gefunden. Uns ist wichtig das der Bus sicher abgestellt ist, aber besonders in Städten stellt sich das aufgrund seiner Höhe von 2,6 Metern als schwierig heraus. Doch die nette Nicole von unserer Unterkunft hat uns auf mehrmaliges Nachfragen versichert das der Parkplatz über 3 Meter hoch ist. Flo ist skeptisch, eine 3 Meter hohe Tiefgarage? Also schicke ich Nicole nochmal eine Nachricht, aber sie sichert uns erneut zu das es sich locker ausgeht. Nicole wird schon nicht so blöd sein, es wird schon klappen. Also gut, wir machen uns auf ins Zentrum. Der Portier schaut uns schon komisch an als wir ins Tor einfahren. Ein paar Meter weiter sehen wir die Tiefgarageneinfahrt mit einem RIESIGEN Schild „Max. 1,90 Meter“. Na super, entweder ist Nicole wirklich so blöd oder blind. Genervt müssen wir jetzt eine Lösung finden. Aber der Portier ist so nett und wir dürfen unser Auto für eine Woche auf dem Besucherparkplatz stehen lassen. Leider parken wir hier nicht so sicher wie in der Tiefgarage. Aber Flo ist clever und sucht eine Parkbucht mit Seiten- & Rückwand aus. Jetzt heißt es nur noch gaaanz nah ranfahren. Nicht mal der schmale Florian passt mehr zwischen Türe und Wand, wir verlassen uns darauf, dass es nicht viel Diebe gibt die dünner sind als er. 😊 In diesen Momenten wird mir wieder mal vor Augen geführt das Flo immer eine Lösung hat, auch wenn sie noch so unkonventionell ist, sie funktioniert. Auf unserer Reise fällt uns, noch stärker als zu Hause auf, dass wir beide unterschiedliche Fähigkeiten, Stärke und Schwächen haben. Also ergänzen wir uns ganz gut, wo der eine nicht weiter weiß hat der andere schon ein Ausweg parat. Flo kann sich unglaublich gut orientieren, ist handwerklich begabt und ich kenne niemanden mit mehr Hausverstand (Sorry, Papa)😇 . Außerdem ist es nie verkehrt einen persönlichen Mechaniker auf der Reise dabei zu haben. Ich übernehme dafür die Fragerei in fremden Sprachen, dokumentiere unsere Reise und meine Kochkünste gehen im Gegensatz zu Flo weit über Toast hinaus. Ganz nebenbei lege ich während den Fahrten die heißesten Scheiben und aktuellsten Podcasts von Braz bis Buenos Aires auf. Von unseren Schwächen reden wir lieber ein anderes Mal…

Jetzt geht es erstmal ins Herz von Santiago, übrigens das erste Mal in Südamerika mit einer U-Bahn. Die Öffis laufen, genauso wie der restliche Straßenverkehr, für diesen Kontinent erstaunlich entspannt und geordnet ab. Wir besuchen einige Museen um die Vergangenheit dieser Stadt verstehen zu können. Besonders die politische Landschaft in Chile ist sehr kontrovers – bis heute. Auch in der Gegenwart erschüttern die Folgen von Pinochets Herrschaft das ganze Land.  Die Nachwehen sind dauernd präsent, bis heute werden hunderte Menschen vermisst, die damals unter seiner Tyrannei verschwunden sind. Die Familienangehörigen verlangen bis heute Antworten, die sie leider nicht bekommen. Nicht auszumalen welcher Ungewissheit die Hinterbliebenen ausgesetzt sind. Ihre Wut und Verzweiflung werden in etlichen Demonstrationen breitgemacht. Demonstrieren ist sowieso ein Südamerika-Ding. Das Motto lautet: ein Wochenende ohne Demo, war kein gutes Wochenende. Eigentlich läuft das Ganze immer relativ ruhig ab. Also machen wir es wie immer und stehen ein wenig unbeteiligt am Straßenrand und versuchen zu begreifen um was es geht. Genau so machen wir es in Santiago, in den Nachrichten habe ich schon mitbekommen das es um eine Abstimmung geht ob die Verfassung geändert werden soll. Wir unterhalten uns mit zwei offenen Santiaguinos die uns ihre Meinung zur Lage mitteilen. Da die Abstimmung nicht so ausgegangen ist wie angenommen werden heftige Proteste erwartet. Zum ersten Mal sehen wir einen Wasserwerfer in Angriffsstellung und etliche andere gepanzerte Fahrzeuge. Unsere Neugier ist groß, da wir stellen uns hinter die Polizisten, hier sind wir sicher und haben einen super Blick auf das Geschehen. Die tobende Meute nähert sich lautstark. Aber als die ersten faustgroßen Steine und Glasflaschen auf die Polizisten geworfen werden, merken wir das wir hier schnellstens wegmüssen. Nach diesem Vorfall müssen wir lachen, wir sind nicht gerade Demo-Erprobt und habe die Situation vielleicht ein wenig falsch eingeschätzt. 🤦‍♀️ In diesem Moment ist die sonst so „sichere“ Nähe der Polizei doch nicht der beste Ort um sich aufzuhalten. Die Chilenen denken sich bestimmt was diese zwei jungen Gringos da Mitten in der Demonstration machen, danach haben wir uns das Gleiche von uns selbst gedacht.

Besonders die jungen Chilenen faszinieren mich. Sie stehen auf, machen auf ihre Anliegen aufmerksam und lassen sich nicht unterkriegen. Wie politisch aufgeladen Chile ist wird mir kurioserweise auf einem Spielplatz klar. Ich lausche einem Gespräch: ein etwa 6 Jahre alter Junge fragt ein Mädchen ob sie eine Feministin sei, weil sie nur rosa Kleidung trage. Ich denke, dass ein 6-jähriges Kind bei uns in Österreich selten mit solchen Themen in Berührung kommt. Aber hier ist das Recht der Frauen und Gleichberechtigung überall und für jeden präsent. Es gibt selten eine Mauer die nicht mit Graffiti oder Plakaten verschönert oder verschandelt wurde. Ich denke das ist Ansichtssache. Es gibt wunderschöne Kunstwerke, starke Worte, einprägsame Bilder aber auch unglaublich viele Schmierereien. Von diesen Kritzeleien ist kein Gebäude sicher, das sonst so konservativ-katholische Südamerika wird in Santiago verdrängt. Viele Kirchen stehen leer, die meisten müssen komplett verbarrikadiert werden, da einige rebellierende Menschen nichts mit Religion anfangen können. Das verstehe ich, aber muss man deswegen gleich alles zerstören? Wunderschöne Gebäude sind jetzt nicht mehr zugänglich, wurden beraubt und demoliert. Diskussionsstoff für Flo und mich. Wir sind auch dafür das der Reichtum der Kirche niemandem was nützt, wenn er an den Wänden hängt. Die meisten Schätze wurden sowieso gestohlen und ergaunert. Es wäre eine wundervolle Geste, wenn diese Reichtümer denen zukommen würden die es am meisten brauchen. Aber mutwillig alles zu stehlen und zu zerstören ist unserer Meinung auch nicht in Ordnung. Aber hier in Südamerika wird da nicht lange fackelt, solche Entscheidungen werden meist schnell und rabiat gefällt.

Genauso kurz angebunden wie die Kirchen-Zerstörer sind die Straßenverkäufer. Ich bin von ihrem Geschäftssinn entzückt. Eigentlich sind Verkaufsstände in der Innenstadt verboten. Also bauen sie kurzerhand ihre Stände in Einkaufswagen auf. Wir sitzen gemütlich am Plaza de Armas bis plötzlich ein lauter Pfiff zu hören ist. Und schon beginnt das große Rennen, duzende Straßenhändler suchen panisch das Weite. Das heiße Öl aus der improvisierten Einkaufswagen-Küche spritzt raus, der Medikamentenverkäufer schließt schnell seinen Koffer und zieht diesen hinter sich her während er in einer Gasse verschwindet. Wenige Meter dahinter: uniformierte Beamte. Sobald die Polizei verschwunden ist kriechen alle Verkäufer wieder aus ihren Verstecken heraus. Das Katz- und Mausspiel ist sehr amüsant anzusehen und die ACAB-Graffitis ergeben plötzlich Sinn… 😄

Das Ganze ist mindestens genauso spannend wie das, was sich sonst noch um den Plaza de Armas abspielt. Dieser ist eigentlich der größte und prachtvollste Platz der ganzen Stadt. Leider sieht die Wirklichkeit aber anders aus. Beim ersten Mal auf dem Plaza wundern wir uns noch, naiv wie wir sind, wie freizügig diese Frauen hier rumlaufen. Nach einigen Minuten ist dann aber glasklar, dass es sich um Prostituierte handelt die sich hier präsentieren. Das Ganze artet fast zu einem Sport zwischen Flo und mir aus, wir sitzen stundenlang (ja wirklich stundenlang) auf den Parkbänken und wetten darauf welcher Mann welche Frau ansprechen wird. Unglaublich, nach ein paar Tagen verstehen wir das ganze System. Wir wissen das manche Termine (ich weiß nicht wie ich solch eine Verabredung nennen soll?) per Handy vereinbart werden, wer die Chefin ist und wo sie mit den Freiern hingehen. Ich fühle mich wie ein verdeckter Ermittler. Ganz nebenbei fällt uns dann auch noch auf das sich ungewöhnlich viele junge Männer alleine im Park aufhalten. Auch da stellen wir einige krumme Geschäfte fest. Geld wird zugesteckt und im Gegenzug irgendwelche Päckchen ausgehändigt. Super spannend für uns als Außenstehende aber für die Einwohner der Stadt ein Horror. All das spielt sich am helllichten Tag ab, während Kinder Tauben nachjagen und Omas ihre Einkauftüten nach Hause tragen. Wir erfahren das sich dieses Viertel in den letzten Jahren sehr gewandelt hat. Laut den Chilenen ist das besonders den Venezolanern geschuldet. Sie flüchteten in den letzten Jahren aus Venezuela, viele sind bis heute noch dazu gezwungen. Da Chile als reiches Land gilt ist es ein beliebtes Ziel der Flüchtenden. Ich fühle mich sehr in die Lage der europäischen Flüchtlingskrise zurückversetzt. Viel Wut, viele Vorurteile und viel Zweifel hängen in der Luft. Ich kann die Gegebenheiten nur sehr schwer einschätzen, da wir unverhältnismäßig wenig Zeit in der Stadt verbringen und ich diese nur im jetzigen Zustand kennenlerne. Ich hoffe das sich die zwei Nationen in Zukunft näherkommen und die unterschiedlichen Kulturen einander nicht mehr im Weg stehen. Ich bin überzeugt das man viel voneinander lernen kann, aber Sturköpfe gibt es wie immer auf beiden Seiten. Außerdem sollten sich die Burschen am Plaza de Armas mit ihren Geschäftchen ein wenig zurückhalten, das würde die Stimmung sicher immens verbessern.

Santiago. Eine Stadt die wir uns ganz anders vorgestellt haben. Aber ist das nicht auch der Sinn unserer Reise? Genau dieses Wissen über ein Land, das man meint zu kennen wird plötzlich widerlegt. Auch wir merken das wir mit etlichen Vorurteilen behaftet sind. Es tut gut dies zu erkennen und manchmal vom Gegenteil überzeugt zu werden. Es gibt noch etliche Eindrücke aus Santiago, das würde den Rahmen aber eindeutig sprengen. Ich freue mich zu Hause, auf wunderbare Gespräche mit euch. Von Angesicht zu Angesicht kann man das Erlebte noch viel einfacher und eindrücklicher schildern.


Santiago

Graffiti & sonstige Schmierereien


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