#37 COLONIA DIGNIDAD

September 2022

Viele kennen bestimmt die Geschichte der Colonia Dignidad. Dank eines Spielfilms und einer kürzlich veröffentlichten Netflix-Dokumentation wird erneut an die Sekte erinnert. Ich als alte Verbrecher-Interessierte bin natürlich schon seit langem im Bilde. Aber dass ich wirklich mal am Ort des Geschehens sein werde, hätte ich nie für möglich gehalten. Wir können es erst glauben als wir die Metallschranke am Eingang der Colonia passieren. Südlich von Santiago, ziemlich abgelegen liegt das -heute- Bayrische Dorf „Villa Baviera“, von Colonia Dignidad distanziert man sich hier. Mit Lederhose, hausgemachten Würsten und Volksmusik versuchen die Nachfahren der Sekte den Tourismus anzukurbeln und vielleicht ein wenig von der Vergangenheit abzulenken… Wir sind sehr gespannt ob wir eventuell noch etwas aus der Sektenzeit erfahren können oder vielleicht einen Zeitzeugen antreffen werden.

Paul Schäfer, der Gründer von Colonia Dignidad arbeitete in den 1950-ger Jahren als Jugendbetreuer in evangelischen Heimen. Dort wurde er mehrmals entlassen, weil er schon zu dieser Zeit Kinder sexuell belästigte. Als sich diese Fälle häuften blieb er nie lange an einem Ort. Er zog als charismatischer Laienprediger durch evangelisch-freikirchliche Gemeinden und scharte viele – oft orientierungslose und kriegstraumatisierte – Menschen um sich. Mit diesen Anhängern baute er 1960 ein Kinderheim im Norden Deutschlands. Zu der Eröffnungsfeier des Heimes war auch der Chilenische Botschafter zu Gast und überzeugte Schäfer ein solches Heim in Chile aufzubauen. Aufgrund eines starken Erdbebens war die verarmte Region im Süden von Santiago bedürftiger als je zuvor. Das Angebot spielte Schäfer in die Hände, da er in Deutschland aufgrund seiner sexuellen Vergehen an den Buben bereits verfolgt wurde. Der Staat Deutschland ließ ihn und seine Anhänger trotz vorliegendem Haftbefehl ausreisen. Leider folgen auf diese Entscheidung noch etliche Fehler von deutscher und chilenischer Seite.

Angekommen in Chile wurde den Kolonisten ein Grundstück zur Verfügung gestellt. Etliche Menschen glaubten an das Gute, wollten helfen und hofften auf einen Neuanfang. Die Gruppe baute ein Krankenhaus auf, in dem Menschen aus der Umgebung umsonst behandelt wurden. Errichteten Baracken, Speisesäle, bewirteten die Felder und langsam wuchs das Dorf. Die Kolonisten waren unglaublich motiviert, arbeiteten buchstäblich Tag und Nacht. Anfangs waren Schlafbaracken notwendig um vorerst die viele Bewohner unterzubringen, ihnen wurde allerdings versprochen sobald es möglich sei, Grundstücke aufzuteilen und Eigenheime zu errichten. Dieses Versprechen wurden allerdings nicht eingehalten und die Geschichte verändert sich tragischerweise in kürzester Zeit sehr.

Es war eine Sekte. Punkt. Genau das hat mir Patricio (ein ehemaliger Bewohner der Colonia) geantwortet, als ich ihn gefragt habe warum er den ganzen Wahnsinn so „blind“ mitgemacht hat. Jetzt denke ich noch viel über diesen Satz nach. Es war eine Sekte. Punkt. Wir als Außenstehende können nicht begreifen was sich Menschen alles gefallen lassen und wie sie so unüberlegt einem Anführer gehorchen können. Aber diese Personen sind einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen worden. Leider gibt es Menschen wie Paul Schäfer die unglaublich überzeugend und manipulativ sein können. Genau diese Beeinflussung wurde Schritt für Schritt gesteigert. Zuerst wurden Frauen und Männer in getrennten Schlafsälen untergebracht. Dann wurden sie von ihren Kindern getrennt. Plötzlich durften die Kinder nicht mehr Mama und Papa sagen, nur noch Tante und Onkel. Dann durften Tante und Onkel nur noch eine Stunde pro Woche besucht werden. Immer weiter und weiter entfernten sich die Familien. Jeder lebte nur für sich alleine. Sie arbeiteten so viel, dass sie kaum noch Energie hatten um zu denken, alle funktionierten nur noch. Der Einzige der alle Freiheiten hatte, war Schäfer. Er hatte stets junge Burschen um sich. Nahm diese auch nachts zu sich, die Bewohner himmelten ihn dafür sogar an, wie fürsorglich und liebevoll er doch ist. Aber dass er sich an den Jungen sexuell vergriffen hatte, wusste angeblich niemand. Während ihm die Gemeinschaft blind folgte, freundete sich Schäfer immer mehr mit der chilenischen Regierung an. Nach dem Putsch 1973 arbeitete er mit Pinochet und der chilenischen Geheimpolizei zusammen. Eine entlegene, abgeschiedene Sekte – der perfekte Ort für ihre „Angelegenheiten“. Hier blieb für Jahrzehnte unentdeckt, dass das Militär Menschen verschleppte, folterte und ermordete. All das haben die Bewohner der Colonia angeblich auch nicht mitbekommen.

Heute wissen wir von etlichen Verbrechen vor allem gegen Feinde des Pinochet Regimes. Von Misshandlungen deutscher und chilenischer Jungen. Jahrelangem Psychoterror an den Bewohner, Unterdrückung mittels Elektroschocks, Prügel und Verabreichung von Psychopharmaka. Zwangsadoptionen von 21 chilenischen Kindern, die zu einer Behandlung ins Krankenhaus gekommen waren. Dort wurde den chilenischen Eltern mitgeteilt, dass die Kinder eine mehrmonatige stationäre Behandlung benötigen. Dafür sollten die (teilweise analphabetischen) Eltern angebliche Einverständniserklärungen unterzeichnen. Viele Eltern konnten ihre Kinder später nicht wieder aus der Colonia rausholen. Leider gibt es so viele Übeltaten, dass ich diesen Absatz mit: und, und, und… abschließen muss.

Nachdem einige chilenische Familien, deren Kinder vergewaltigt wurden, im Jahr 1996 Anzeigen gegen Schäfer erstatteten, floh er mit einer Hand voll Getreuen nach Argentinien. Erst acht Jahre später wurde er dort auf einem geheimen Landsitz unweit der Hauptstadt Buenos Aires, gefasst. Schäfer wurde 2005 verhaftet und verstarb fünf Jahre später im Gefängnis von Santiago de Chile.

Diese Geschichte kennen wir bereits grob als wir die Rezeption in der Villa Bavaria betreten, um uns zu erkundigen ob wir in unserem Bus übernachten dürfen. Erstaunlicher Weise spricht die Frau hinter der Theke besser Deutsch als wir. In perfektem Hochdeutsch ruft sie ihren Gehilfen Patricio an, der uns gleich einen Stellplatz zeigen soll. Patricio wird nicht gefragt ob er bitte kurz kommen kann. Nein. Ohne Begrüßung befiehlt sie ihm mit lauter Stimme „Ich brauche dich hier. Komm.“ Bum, aufgelegt. Ein paar Minuten später tappt Patricio mit gemütlichem Gang um die Ecke. Als wir mit ihm gemeinsam aus dem Hotelgebäude laufen, ruft ihm die Rezeptionistin noch was nach. Er verdreht aber nur kurz die Augen und tut so als ob er nichts hören würde. Glücklicherweise stimmt die Chemie zwischen uns dreien gleich. Wir unterhalten uns mit Patricio vor unserem Bus. Er ist sehr offen, daher nehme ich allen Mut zusammen und wage mich zu fragen ob er zur Colonia-Dignidad-Zeit auch schon hier war. Erstaunlicherweise hat Patricio gar keine Hemmungen über diese Zeit zu sprechen. Er erzählt uns, dass er als 8-Jähriger Junge von seiner Mutter über den Sommer hier abgegeben wurde. Die arme Familie war froh wenigstens eine Zeit lang ein Maul weniger stopfen zu müssen. Der Sommer ging vorüber, der Herbst ging vorüber und gegen Ende des Winters ging dann auch die Hoffnung von Patricio vorüber. Die Familie hat ihn abgegeben und nie wieder abgeholt. Seit diesem Sommer lebt er hier. Obwohl er Chilene ist spricht er perfekt Deutsch, über Jahre war es ihm verboten Spanisch zu sprechen. Patricio meint „Kommt mal mit.“ Flo und ich folgen ihm auf die Rückseite eines Gebäudes. Er zeigt mit seinem Finger auf eine Tür und ein Fenster und erzählt uns mit ruhiger Stimme: Hier war das Zimmer von Paul Schäfer. Hier stand die Badewanne in denen er die Jungen gewaschen hat und genau hier ist der Ort an dem (wie er sagt) „die Schweinereien“ getrieben wurden. Wahnsinn, wir hofften darauf vielleicht einen Zeitzeugen zu treffen. Aber, dass wir in der ersten halben Stunde schon die Schlafgemächer von Paul Schäfer sehen und uns lange mit Patricio unterhalten, hätten wir nie gedacht.

Wir erkunden das Gelände, munkeln wo wohl der Kartoffelkeller ist, wo sich die Folterkammer befand, unter welchem Schuppen der Bunker von Schäfer war. Wir laufen viel und sehen etliche Scheunen und Wirtschaftsgebäude, die aber allesamt nicht mehr benutzt werden. Man merkt das dieser Ort ursprünglich für viel mehr Menschen errichtet wurde. Heute leben hier nur noch etwa 150 Menschen. Eine davon ist Erika, die wir bald kennenlernen werden.

Flo und ich stehen wieder an der Rezeption und erkunden uns ob wir das Museum über die Colonia Dignidad sehen dürfen. Wir haben das Museumsgebäude entdeckt, allerdings ist die Türe immer versperrt. Da ruft die Rezeptionsdame kurzerhand Erika an und weist sie ähnlich schroff an, dass sie mal kommen soll. Dankbar vereinbaren wir mit Erika eine Zeit, sie wird uns am Nachmittag eine halbe Stunde das Museum zeigen. Mit der gewohnten deutschen Pünktlichkeit steht Erika schon parat und wartet auf uns. Sie kommt mir sehr bekannt vor und ich bin so frech und frage direkt, ob sie in der Dokumentation zu sehen war. Und sie bejaht meine Frage. Unglaublich, in Braz auf der Couch habe ich den Worten dieser Frau schon gelauscht und jetzt kann ich mich in Chile persönlich mit ihr unterhalten. Und sie hat sooooo viel zu erzählen. Aus unserer vereinbarten halben Stunde werden 3 Stunden. Die Zeit vergeht wie im Flug, für uns und anscheinend auch für sie selbst. Sie berichtet uns von ihrem Leben, sie ist als 2-Jährige mit ihren Eltern in die Colonia gekommen. Die Eltern waren aber, bis sie unfassbare 32 Jahre alt war, nur Tante und Onkel für sie. Sie kannte kein anderes Leben als das unter Schäfer. Bereits als Kind arbeitete sie mehrere Stunden täglich, die Zeit war hart und entbehrungsreich aber heute profitiert sie von ihren Fähigkeiten. Sie arbeitete als Krankenschwester, half in der Bäckerei, auf dem Acker und in der Schneiderei. In der Colonia konnte jeder irgendwie alles. Als einmal ein Spezialist aus der Hauptstadt kam um ihr zu lernen wie man Bewegungsmelder zusammenbaut wurde ihr erzählt, dass sie damit zur Sicherheit der Kolonie beitragen würden. Dass sie sich damit aber ihr eigenes Gefängnis gebaut hat wussten sie nicht. Patricio erzählte uns das er in Zaunpfähle Löcher bohren musste, niemand traute sich damals zu fragen warum und wieso. Alles wurde blind ausgeführt, er wusste auch nicht das später genau hier die Bewegungsmelder von Erika eingebaut wurden um Ausreißer zu schnappen. Es gibt noch unzählige Geschichten die wir fast nicht begreifen können. Erika erzählt uns von ihrem früheren Alltag und den Herausforderungen in ihrem jetzigen Leben. Auf dem Rückweg halten wir noch an einem Gebäude. Erika zeigt uns den berühmt-berüchtigten Kartoffelkeller. Hier wurden die politischen Gegner gefoltert, viele verstarben bei dem Martyrium, ihre Leichen sind bis heute nicht auffindbar. Ein unglaublich beklemmender Ort, das Atmen fällt hier unten schwer, das Herz drückt auch ein bisschen, oder ist es doch der Magen? So viele Gefühle und Gedanken schwirren in unseren Köpfen. Kaum auszumalen wie sich die Angehörigen der Verschwundenen fühlen müssen.

Colonia Dignidad – Kolonie der Würde. Und doch hat dieser Ort so wenig mit Würde zu tun wie kein anderer in Chile. Unglaublich wie sich diese Gemeinschaft gewandelt hat, die Kolonisten sind ursprünglich aus ganz anderen Beweggründen hier hergekommen. Obwohl wir so viel an diesem Ort erfahren haben und so viele Menschen kennengelernt haben, wie wir es nie erwartet hätten, fehlen uns Antworten. Wir haben immer noch so viele Fragen. Wie konnte all das unbemerkt bleiben? Haben die Bewohner wirklich nichts mitbekommen? Warum hat sich niemand gewehrt? Warum hat der deutsche und chilenische Staat all das zugelassen? Warum…

Wir verlassen diesen bedrückenden Ort ohne Erkenntnis. Ich denke nur der Satz von Patricio kann all das Geschehene ein wenig erklären:

Es war eine Sekte. Punkt.

 


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