#27 LA PAZ
Juli 2022
Vom Titicacasee machen wir uns auf den Weg nach La Paz, das übrigens nicht wie oft angenommen die Hauptstadt Boliviens ist. Per WhatsApp haben wir uns schon mit dem nächsten Gastgeber Marcos in Verbindung gesetzt. Er warnt uns vor dem Verkehr in La Paz und bittet uns Zeit und Geduld mitzubringen. Alles klar, chaotische Städte in Südamerika haben wir schon öfter erlebt. Aber dann kommt, obwohl wir gewarnt wurden, ziemlich unerwartet: El Alto.
Diese Stadt liegt über den Hügeln von La Paz. El Alto hat den Status einer eigenen Stadt und schätzungsweise weit über eine Millionen Einwohner - also mehr als La Paz selbst! Da El Alto stetig wächst und ein Gewirr aus Bretterbeschlägen und immer neuen Gassen ist, lässt sich die genaue Zahl kaum ermitteln. Ein ähnliches Wirrwarr spielt sich auf den Straßen ab. Wir sind gewohnt das auf diesem Kontinent gehupt, gedrängelt und geflucht wird. Auch das man ein paar Sekunden nach rot noch schnell über die Ampel huscht. Aber hier angekommen werden wir agressiv angehupt weil wir überhaupt bei einer roten Ampel anhalten. Niemand, wirklich niemand bleibt hier bei rot stehen. Ein flüchtiger Blick nach links und rechts reicht um sich einen Überblick zu schaffen. Zu unserem Pech findet in El Alto noch ausgerechnet eine Parade statt, somit ist eine Straßenseite gesperrt. Aus unserer zwei-spurigen Fahrbahn wird kurzerhand eine vier-spurige mit Gegenverkehr. Alle können sich nur noch im Schneckentempo bewegen, da von Seitenspiegel zu Seitenspiegel meist nur ein Zentimeter Luft ist. Da stehen wir jetzt mitten auf der Straße, mitten im Chaos und hoffen das uns niemand ins Auto fährt. Die Polizisten stehen ziemlich ratlos am Straßenrand und drücken gelangweilt auf ihren Handys rum. Wahrscheinlich ist die Partie Candycrush, oder das laufende Fußballspiel gerade interessanter. Ohnehin könnten sie nicht viel ausrichten, hier gilt: der Stärkere gewinnt. So schlagen wir uns durch die Stadt, bis wir zum ersten Mal an einem Abhang stehen und La Paz erblicken können. Wir sind völlig verblüfft. Hier auf knapp 4000 Metern blicken wir jetzt runter auf den Kessel an dessen Wänden eine Stadt zu kleben scheint. La Paz gibt schon auf den ersten Blick zu erkennen, dass es nicht am Reißbrett entworfen wurde. Die Stadt läuft überall dort hin, wo sie Lust hat. Nur die zwei Hauptstraßen versuchen ein wenig Ordnung in das Gewirr von steigenden und fallenden Straßen zu bringen.
Endlich angekommen bei unserer Unterkunft lernen wir Marcos persönlich wir plaudern ein wenig mit ihm, er ist ebenfalls wie Flo ein Mechaniker, da stimmt die Chemie sofort. Als wir auf dem Weg ins Bett sind teilt uns Marcos mit das er in den Urlaub fährt, lässt uns seine Grundstückschlüssel da, bittet uns immer verlässlich abzuschließen und verabschiedet sich mit den Worten: „Wir sehen uns in einer Woche!“. Nach den relaxten Urugayos, den überdrehten Brasilianern und den zurückhaltenden Peruanern sind wir überrascht von der Herzlichkeit und Freundlichkeit der Bolivianer. Ich bin mir nicht sicher ob ich zu Hause zwei relativ fremden Menschen meine Schlüssel anvertrauen würde und in den Urlaub abhaue. Wir scheinen einen ziemlich soliden, vertrauenerweckenden Eindruck zu machen.
Aber jetzt ist es Zeit, wir legen uns ziemlich erschöpft nieder. Doch die Ruhe dauert nicht lange an. Flo klagt über Übelkeit und wenn er jammert, dann muss es was Ernstes sein. Es dauert nicht lange bis er sich übergeben muss und mehr Zeit auf der Toilette als im Bus verbringt. Wir wurden so lange von Magen-Darm-Beschwerden verschont, fünf Monate ohne Probleme. Aber auch das musste uns früher oder später passieren. Zum Glück hat er eine Fachkraft dabei, die Wärmflaschen kocht, Tabletten verabreicht und etliche Hausmittel kennt. Aber der erste Tag in der Stadt muss verschoben werden, dann der zweite auch noch. Jetzt geht es Flo besser aber mir ist nicht mehr wirklich wohl. Am dritten Tag machen wir uns auf in die Stadt, mit einem Collectivo (einem Kleinbus dem man einfach an jeder Straßenecke winken kann und kurz ankündigt, wenn man aussteigen will, zudem permanent überfüllt ist), fährt uns bis zur Seilbahnstation. Von hier aus geht es mit der von zu Hause gewohnten Doppelmayer-Verlässlichkeit in die Stadt. Das Seilbahnsystem ist super einfach und entlastet das Verkehrsaufkommen immens. Gar nicht vorzustellen wir es vor dem Seilbahnbau auf den Straßen zugegangen sein muss, wenn man bedenkt das die Straßen sogar noch jetzt überfüllt sind. Angekommen in der Stadt spazieren wir ein wenig rum, es dauert aber nicht lange bis wir uns wieder auf den Rückweg machen müssen. Ziemlich schwach und kreidebleich dauert die Rückfahrt gefühlt eine halbe Ewigkeit. Jetzt hat es mich auch noch erwischt. Es dauert weitere zwei Tage bis wir beide wieder fit und auf den Beinen sind. Aber erholt machen wir uns jetzt endlich auf um La Paz zu entdecken.
Über La Paz könnte man ganze Bücher füllen. So viele Geschichten, vor allem viele für uns Europäer kuriose werden uns hier erzählt. Ich als alte Krimi- und Verbrecher-Freundin kenne natürlich schon die Geschichte über das San-Pedro-Gefängnis. Kokainpartys und Luxusapartments, blankes Elend und Coca Cola Schirme - hier gibt es alles außer Wärter. Das Gefängnis wird ausschließlich von Häftlingen verwaltet, wer Geld hat kann hier gut leben, wer keines hat ist hier wortwörtlich arm dran. Die Verbrecher (vor allem Kleinkriminelle mit Drogendelikten) leben hier zusammen mit ihren Familien. Wir verbringen Stunden damit auf einer Bank vor dem Gefängnistor zu sitzen und zuzusehen wer hier rein und raus geht. Und wir erleben einiges: Kiloweise Reis wird von Frauen hinter die Mauern geschleppt um die dortigen Restaurants zu versorgen, Polizisten übergeben schwarze Plastiktüten an die Häftlinge, stecken unauffällig Geld ein und bringen dieses dem Snack-Stand gegenüber der Straße, wir werden angesprochen ob wir eine illegale Gefängnistour machen wollen und und und… Uns wird geraten auf keinen Fall irgendetwas vom Boden rundum das Gefängnis aufzunehmen, oft werden Kokain-Pakete über die Mauer geworfen. Nicht auszumalen was passieren würde, wenn man einem Drogenbaron sein Paket entwenden würde. Es gibt so viel über dieses Gefängnis zu erzählen, das würde den Rahmen sprengen. Aber wen es interessiert hier ist ein, wenn auch schon älterer, guter Bericht: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/gross-gefaengnis-in-bolivien-stadt-der-gefangenen/9871500.html (Achtung der Artikel hat zwei Seiten!)
Dennoch macht es nachdenklich, viele Gefangene verbringen hier jahrelang um überhaupt auf ihren Prozess zu warten. Allein der Verdacht auf Drogen-Verbrechen reicht aus um die Menschen einzusperren. Aber nicht nur die Justiz hat hier Probleme, die gesamte Politik ist unheimlich korrupt. Die Bolivianer müssen alle paar Jahre um ihre Demokratie kämpfen. Als wir hier sind steht ein Kongress an, somit finden jeden Tag Demonstrationen statt. Krankenschwestern, Mienenarbeiter, Schüler, Lehrer, gefühlt jeder macht hier seine Wut breit. Obwohl Sucre die Hauptstadt ist, befindet sich der Regierungssitz hier in La Paz. Am Plaza Murillo, dem Hauptplatz der Stadt umzingelt von Regierungsgebäuden ist dauerhaut ein Wasserwerfer stationiert. Die politische Lage hier ist so heiß, dass permanent die Bedrohung besteht, dass die Regierung gestürzt wird. An den umliegenden Gebäuden sind noch Einschusslöcher erkennbar vom letzten Aufstand Anfang der 2000er Jahre.
Die Paceños, wie sich die Einwohner von La Paz nennen, sind bunt gemischt. Indigenos und von den Spaniern abstammende Weiße leben hier zusammen. Dennoch gibt es kulturelle Unterschiede, sowohl in der Art zu sprechen auch in der sich zu kleiden. Ein besonderes Farbenspiel bietet die Kleidung der “Cholas”, den Indianerfrauen, die mit weitem Rock und Melone die Straßen und Märkte noch bunter erscheinen lassen.
Thema Markt - da gäbe es wieder unendlich viel zu erzählen. Von dem Hexenmarkt (der mittlerweile ziemlich touristisch ist) bis hin zur Feria El Alto. Es liegt in der Tradition der Aymara Indianer, Pachamama zu huldigen und sie mit kleinen Opfergaben gnädig zu stimmen. Um diese Sachen zu besorgen, geht man natürlich auf einen Markt. Der weithin bekannteste Markt ist der „Mercado de las Brujas“, der Hexenmarkt. Hier bekommt man alles von Liebestränken, Talismane, Lama-Embryos, Coca, Weihrauch bis hin zu getrockneten Seepferdchen. Einen Supermarkt in La Paz zu finden stellt sich als ziemlich schwierig heraus. Alle benötigten Lebens- und Haushaltsmittel werden auf den Märkten besorgt. Wir gehen gerne auf dem Markt einkaufen, dennoch schwebt immer das Gefühl übers Ohr gehauen zu werden mit. Hier sind keine Preise angeschrieben, die Frauen rechnen schnell im Kopf die Endsumme aus, da werden bei uns Gringos bestimmt ein paar Bolivianos Touristenpauschale dazu gerechnet. Aber damit haben wir uns mittlerweile schon abgefunden. Ein weiteres Highlight war die Feria El Alto. Mit der Doppelmayer-Seilbahn schweben wir über die Dächer der eng aneinander geschlungenen Häuser rauf nach El Alto. Wer es sich leisten kann, wohnt hier möglichst weit unten. Je höher die Lage, desto ärmer die Bewohner. An den steilen Hängen von El Alto, wo Wind und Kälte den Menschen zusetzen, finden sich die bescheidensten Behausungen. Besonders die Nächte auf dieser Höhe sind eisig kalt. Natürlich verfolgen wir die Nachrichten zu Hause und können über die Aussagen der verwöhnten Bevölkerung bezüglich der Gaskrise nur schmunzeln. Die Wohnung soll plötzlich nur noch 18 Grad haben? Die Paceños in ihren einfachen Hütten ohne Heizung dämmen ihre Fenster mit Zeitungspapier und sind glücklich wenn es morgens 8 Grad hat. Donnerstags und sonntags findet hier ein riesiger Flohmarkt statt. Auf einer Fläche von fünf Quadratkilometern bekommt man hier alles, wirklich alles. Neben Dingen des alltäglichen Bedarfs finden sich hier auch illegale Kopien von DVDs und Computerspielen, gefälschte Ipods, alte medizinische Geräte, Werkzeug und gebrauchte Autos. Wir durchstöbern die Stände, bestaunen die Menschen und überfordern unsere Augen restlos mit dem unendlichen Angebot.
Die restlichen Tage fahren wir täglich in die Stadt, genießen die Eindrücke. Sogar die Collectivo-Fahrer kennen uns mittlerweile schon. Die unglaublich herzlichen, offenen Menschen machen den Aufenthalt zu einem wirklichen Erlebnis. Es gibt selten eine Fahrt in der Gondel wo kein Gespräch mit den Bolivianern entsteht. Vielleicht ist es genau diese unperfekte, chaotische Umgebung die La Paz so liebenswert macht. Auch wenn wir die Stadt ungern verlassen wird es langsam Zeit weiter zu ziehen.
PS: Entschuldigt den langem Blogeintrag, aber spätestens zu Hause werdet ihr noch weiter über La Paz zugetextet, da gibt es noch so einiges zu erzählen 😊.
La Paz & El Alto





























































Kabelsalat









